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    05.05.2023

    COM 2022 702 final – Liquidation zahlungsunfähiger Kleinstunternehmen: Ein Richtlinienvorschlag an der Realität von 90 Prozent der Unternehmen vorbei

    Prof. Dr. Christoph Alexander Jacobi im EXIS|TENZ Magazin zum aktuellen EU-Richtlinienvorschlag COM(2022) 702 final, wobei der Schwerpunkt des Artikels auf Title VI des Vorschlags liegt: der Liquidation zahlungsunfähiger Kleinstunternehmen. Aus dem Inhalt: „Disclaimer und Entwarnung: Bitte lesen oder überfliegen Sie nachfolgenden Text nur, wenn Sie gerade nichts anderes zu tun haben. Die Regelungen zum Richtlinienvorschlag COM(2022) 702 werden nach Einschätzung des Autors in der aktuellen Fassung aller Voraussicht nach so nicht verabschiedet, geschweige denn in deutsche Insolvenzregeln umgesetzt. […] Der Autor beschränkt sich daher aus seiner Perspektive der nahezu 20jährigen Erfahrung in der Restrukturierungsbranche, vor allem als Insolvenzverwalter und Sachwalter, auf einige skizzenhafte Kernaspekte, die ihn in besonderer Weise dazu führten, sich aufgrund der auffälligen Realitätsferne von COM(2022) 702 verwundert die Augen zu reiben:“

    • Wo ist die europäische Gesetzgebungskompetenz für das Insolvenzrecht?
    • Zielstellung des Richtlinienentwurfs: Förderung der Kapitalmarktunion
    • Im Visier der Kommission: Der gesamte untere Mittelstand
    • Wurden die Grundannahmen des Richtlinienvorschlags COM(2022) 702 europaweit überprüft?
    • Die Verfahrenskosten werden steigen
    • Keine Insolvenzanfechtung: Widerspruch zum Weltbankpapier 2021 – Forderungsausfallschäden nehmen zu
    • Eigenantrag zum vereinfachten Liquidationsverfahren ohne Anfechtung = Anfangsverdacht für §§ 283, 283c StGB
    • Überantwortung auf Justizbehörde – Treuhandanstalt 2.0?
    • Ausverkauf des unteren Mittelstandes?
    • Verbandsstellungnahmen zu COM(2022) 702
    • COM(2022) 723 wird keine Vereinheitlichung im Insolvenzrecht bewirken
    • Welchen Mitgliedstaat hat die EU-Kommission im Blick?

    Material:

    Regelungen COM(2022) 702 Titel VI Auswirkungen
    Der Anwendungsbereich erfasst Kleinstunternehmen juristischer und natürlicher Personen gemäß Art. 2 j) RL-V i. V. m. Art. 2 Nr. 3 Kommissionsempfehlung v. 06.05.2003/361/EC:

    „Innerhalb der Kategorie der KMU wird ein Kleinstunternehmen als ein Unternehmen definiert, das weniger als 10 Personen beschäftigt und dessen Jahresumsatz bzw. Jahresbilanz 2 Mio. EUR nicht überschreitet.“

    Dies betrifft 80 bis 90 % der europäischen Unternehmen. Es wird bemessen an der Anzahl der betroffenen Unternehmen also ein neues Regelverfahren entworfen.
    Art. 38 Abs. 2 RL-V formuliert als Zugang den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit (nicht: Überschuldung) und überlässt den Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung einen weiten Spielraum. Der weite Spielraum steht dem offiziellen Kommissionsziel der Harmonisierung zwecks Kapitalmarktunion entgegen. Mangels Regelung zur Überschuldung (für juristische Personen) droht deren Abschaffung und damit der Verlust von Gläubigerschutz.
    Nach Art. 42 Abs. 1 und 41 Abs. 7 RL-V ist zwingend spätestens zwei Wochen nach dem (Schuldner-
    oder Gläubiger-) Antrag über die Verfahrenseröffnung zu entscheiden. Abgelehnt werden kann der Antrag nur aus den Gründen: kein Kleinstunternehmen, keine Zahlungsunfähigkeit, keine Zuständigkeit.
    Nach diesem Modell wird es im neuen Regelverfahren keine Insolvenzgeldvorfinanzierung mehr geben, keinen vorläufigen Verwalter und keine Eröffnungsphase, in der eine Restrukturierung vorbereitet werden kann oder überhaupt Informationen ermittelt werden könnten.
    Gemäß Art. 39 und 43 RL-V führt der Schuldner das Verfahren grundsätzlich in Eigenverwaltung ohne Sachwalter/Insolvenzverwalter, es sei denn, der Schuldner oder Gläubiger beantragen dies, vorausgesetzt die Kosten sind aus der Masse gedeckt oder werden vom Gläubiger übernommen. Die Bestellung eines Verwalters soll gemäß RL-V zum Ausnahmefall werden. Die Gerichte müssen teilweise die Verwalteraufgaben übernehmen. Beratung im Vorfeld und im Verfahren werden notwendig. Wechsel zum Verwalterverfahren sind zudem häufig absehbar. Folglich werden die Verfahren teurer und langwieriger. Öffentlich-rechtliche Pflichten werden nicht mehr erfüllt werden, wie Steuererklärungen und vor allem Insolvenzgeldbescheinigungen. Die Arbeitnehmer werden die Hauptgruppe sein, die von diesen Verfahren benachteiligt wird.
    Nach Art. 38 Abs. 3 RL-V ist das Verfahren zwingend zu eröffnen, auch wenn die Kosten nicht aus der Masse oder durch einen Gläubiger gedeckt sind. Es gibt keine Abweisung mangels Masse mehr. Das Verfahren ist dann auf Staatskosten, auch bei juristischen Personen, zu eröffnen.
    Gemäß Art. 47 a ist die Verfolgung und Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen nicht zwingend, sondern liegt im Ermessen der Gläubiger oder ggf. des Verwalters. In der Regel wird – allein schon mangels Ermittlung im Vorfeld – keine Insolvenzanfechtung mehr stattfinden. Finanzämter, Family & Friends werden davon profitieren.
    Nach Art. 46 RL-V gelten die Insolvenzforderungen als angemeldet, wenn sie der Schuldner in seinen Verzeichnissen angab. Zudem können Gläubiger Forderungen binnen 30 Tagen nach Eröffnung anmelden. Die Feststellung erfolgt ohne Weiteres nach Fristablauf, wenn kein anderer Gläubiger Einwände erhebt. Eine Tabellenprüfung, wie bislang durch die Verwalter vorgenommen, entfällt. Family & Friends werden davon profitieren. Sofern Gläubiger von dem Verfahren wissen, können sie anmelden, falls der Schuldner sie vergessen hat.
    Die Verwertung der Insolvenzmasse, inklusive Unternehmensverkauf (asset deal/übertragende Sanierung), erfolgt gemäß Art. 50 ff. RL-V vollständig über eine elektronische Auktion. Wer keine Information über das Verfahren hat, ist ausgeschlossen; anderes als im klassischen M&A-Prozess, in dem potentielle Interessenten gezielt angesprochen werden.

    Autor

    Prof. Dr. Alexander Jacobi
    Prof. Dr. Alexander Jacobi