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    29.11.2022

    Europäischer Gerichtshof zur Umsatzsteuerorganschaft: Fließen an Unternehmen mehr als 150 Milliarden Euro zurück?

    Am 01. Dezember 2022 entschied der Europäische Gerichtshof über mehr als 150 Milliarden selektiver „Staatshilfen“ für deutsche Unternehmen. Die Eingangsfrage kann vorläufig mit Nein beantwortet werden, also Entwarnung für den Fiskus:

    In der Rs. C-141/20 unter Rz. 60 hat der EuGH die deutsche Umsatzsteuerorganschaft mit Entscheidung v. 01.12.2022 gehalten. Nach Leitsatz 1 der Entscheidung ist es danach „einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.“

    Prof. Dr. Christoph Alexander Jacobi in der Fachzeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht ZInsO zur Umsatzsteuerorganschaft und der Entscheidung des EuGH hierzu am 01. Dezember 2022 (noch vor Verkündung der Entscheidung); ausschnittweise nachfolgende Kurzfassung:

    EuGH C-141/20 (Finanzamt Kiel gegen Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH zu BFH v. 11.12.2019 – XI R 16/18) und EuGH C-269/20 (Finanzamt T gegen S zu BFH v. 07.05.2020 – V R 40/19)

    Die umsatzsteuerliche Organschaft: Ent­wick­lun­g im Umsatzsteuerorganschaftsrecht vom umsatzsteuerpflichtigen Organträger hin zur umsatzsteuerpflichtigen Mehrwertsteuergruppe – Wird die deutsche Regelung vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gekippt?

    Finanziell unwahrscheinlich anmutende Konsequenz – oder juristisch formuliert: argumentum ad absurdum

    Zugegeben die 150 Milliarden – vielleicht liegt der Betrag auch um ein Vielfaches darüber – sind mehr als grob geschätzt und dienen wie die Überschrift als Teaser für den geschätzten Leser. Und dennoch: Im Raum steht, dass der EuGH am 01. Dezember die deutsche Rechtskonstruktion der umsatzsteuerlichen Organschaft verwirft und für unionsrechtswidrig erklärt. Wenn die deutsche Umsatzsteuerorganschaft schlicht und einfach – wofür die Generalanwältin Laila Medina in ihren Schlussanträgen votiert – verworfen wird, dann steht folgendes im Raum: Unternehmen bzw. Unternehmer, die als Organträger bislang die Umsatzsteuer zahlten, haben gegenüber dem Finanzamt für sämtliche geleisteten Umsatzsteuern einen Rückzahlungsanspruch, sofern noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist (§ 169 AO; Steuerhinterziehung einmal ausgenommen – dann 10 Jahre Festsetzungsverjährung).

    Aus rein finanzieller Sicht ist man geneigt zu sagen, einen derartig massiven Steuerschaden zulasten des deutschen Staates wird der EuGH zu vermeiden wissen; zumal nach klarer Argumentation des BFH bei Verwerfung der deutschen Umsatzsteuerorganschaft und den daraus folgenden Umsatzsteuerrückzahlungen anstelle des Organträgers weder die Mehrwertsteuergruppe noch die Organgesellschaft als neuer Steuerschuldner in Betracht kommt (BFH v. 07.05.2020 – V R 40/19, Rz. 29-32). Der Jurist würde hier die Redeweise des argumentum ad absurdum bemühen: Was derart absurde Konsequenzen hat, kann nicht richtig sein. Dass dies möglicherweise zu kurz gedacht ist, zeigt die noch folgende Argumentation von Generalanwältin Medina. Legt man nur die laut Statistischem Bundesamt (Destatis) jährlich vereinnahmten Umsatzsteuern zugrunde, ergibt sich für 2021 als Berechnungsgrundlage ein Betrag von 250 Mrd. Euro, die an Umsatzsteuern in diesem Jahr gesamt vereinnahmt wurden. Es wird davon ausgegangen, dass die Gesamtheit der Organträger i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UstG etwa 10 % des gesamten Umsatzsteueraufkommens in Deutschland verantworten, was jährlich rund 25 Mrd. Euro wären. Für einen potentiellen Mindestrückforderungszeitraum für 6 Jahre seit 2017 ergibt sich damit die Summe von 150 Mrd. Euro, die gesamt an die Organträger zurückzuzahlen wäre.

    Praktische Vorgehensweise für Unternehmen bzw. Unternehmer als Organträger, wenn die deutsche Umsatzsteuerorganschaft am 01. Dezember vom EuGH verworfen wird

    Zum 31.12.2022 tritt grundsätzlich Festsetzungsverjährung (§ 169 AO) für regulär abgegebene Umsatzsteueranmeldungen ein. Die Festsetzungsverjährung beträgt vier Jahre und beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuererklärung (Anmeldung) eingereicht wurde. Beispiel: Umsatzsteuerjahreserklärung 2017, eingereicht im Jahre 2018, Beginn der vierjährigen Verjährungsfrist mit Ablauf des 31.12.2018, Eintritt der Festsetzungsverjährung mit Ablauf des 31.12.2022. Wurde eine Umsatzsteuerjahreserklärung für 2016 oder früher noch nicht bzw. verspätet abgeben, können mangels Festsetzungsverjährung auch die in diesem Zeitraum gezahlten Umsatzsteuern des Organträgers noch einer Rückzahlung unterliegen, sollte die Umsatzsteuerorganschaft vom EuGH verworfen werden. Konkretes Vorgehen:

    • Änderungsantrag auf Herabsetzung der Umsatzsteuer mindestens ab 2017 auf 0,00 € und Antrag auf Rückzahlung der gezahlten Umsatzsteuer zzgl. Zinsen
    • Der Änderungsantrag hemmt den Ablauf der Festsetzungsverjährung (§ 171 Abs. 3 AO).
    • Für Insolvenzverwalter: Wenn nicht der Organträger in Insolvenz verwaltet wird, sondern eine Organgesellschaft, dann ist der Organträger zu diesem Änderungsantrag aufzufordern. Rechtlich könnte sich dann gegen den Organträger ein Anspruch seitens der Organgesellschaft ergeben, den auf sie entfallenden Anteil der Umsatzsteuerrückerstattung an sie auszukehren.

    Schlussanträge von Generalanwältin Laila Medina

    Am 01. Dezember 2022 entscheidet der EuGH 09.30 Uhr über die Rechtsfolgen der umsatz­steuer­lichen Organschaft. Die Schlussanträge von Medina zu Rs. C-241/20 sprechen sich eindeutig gegen die deutsche Regelung zur Umsatzsteuerorganschaft aus, wonach nur der Organträger als Steuerpflichtiger fungiert (Rz. 103). In der weiteren, parallelen Rechtssache zur selben Thematik Rs. C-269/20 zeigen diese gegenüber Rs. C-241/20 aktuelleren Ausführungen vor allem zu Rz. 27, 29, 34, 38, 41, 42 die klaren Argumente gegen die deutsche Umsatzsteuerorganschaft unter deutlicher Zurückweisung des Einwandes möglicher Steuerausfälle:

    „42. […] Schon seit einigen Jahren [werden] in der nationalen Rechtsprechung, in der Unionsrechtsprechung […] und in der rechtswissenschaftlichen Literatur erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Regelung für Mehrwertsteuergruppen mit der Sechsten Richtlinie geäußert […]. Deutschland hatte also genügend Zeit, um Maßnahmen zu ergreifen, um die im Zusammenhang mit seiner Regelung für Mehrwertsteuergruppen festgestellten Probleme zu beheben. Jedenfalls kann ein Mitgliedstaat nicht untätig bleiben und eine solche Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Literatur ignorieren, nur um dann zu argumentieren, dass er erhebliche Steuereinnahmen verlöre, wenn der Gerichtshof seine Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht für unvereinbar erklärte.“

    Ein Gedankenspiel: Umsatzsteuerorganschaft kippt – und neue „Staatshilfen“ fließen

    Wird durch den EuGH und durch die nachfolgende – im Detail dann noch offene – nationale Umsetzung die deutsche Umsatzsteuerorganschaft verworfen, stehen die hier diskutierten Umsatzsteuerrückerstattungen in erheblicher Höhe im Raum. Ein Großteil der Umsatzsteuerorganschaften dürfte sich weder im Bereich kleiner oder Kleinstunternehmen noch bei den kleineren Unternehmen des Mittelstandes, sondern bei Großunternehmen bzw. Konzernen und vor allem bei größeren Unternehmen des Mittelstands finden, da dort bei entsprechenden Unternehmensgruppen im Gegensatz zu börsennotierten Aktiengesellschaften eher ein Über- und Unterordnungsverhältnis im bisherigen organschaftlichen Verständnis anzutreffen sein wird. Die möglichen Umsatzsteuerrückerstattungen bei Verwerfung der deutschen Umsatzsteuerorganschaft kämen damit überwiegend diesem wirtschaftlichen Bereich und auch dort nur selektiv denjenigen zugute, die umsatzsteuerorganschaftlich aufgestellt sind.

    Politisch würde möglicherweise vor dem Hintergrund der umsatzstarken Großunternehmen argumentiert werden, diese erbrächten den wesentlichen Teil der Wirtschaftsleistung, weshalb eine Marktverzerrung oder Marktungerechtigkeit mit den Umsatzsteuerrückerstattungen nicht einherginge. Im Jahr 2020 tätigten die Unternehmen in Deutschland Umsätze in Höhe von knapp 6,88 Billionen Euro. Orientiert an der KMU-Definition der Europäischen Kommission erwirtschafteten KMU davon 2,32 Billionen Euro, was einem Anteil von rund einem Drittel aller steuerbaren Umsätze aus Lieferungen und Leistungen entspricht. Innerhalb der KMU erzielten die mittleren Unternehmen den meisten Umsatz (14,7 % aller Umsätze). Vergleichsweise hoch ist der Umsatzanteil der großen Unternehmen, der mit rund 4,56 Billionen Euro rund zwei Drittel aller Umsätze ausmacht. Über die Jahre zeigt sich Stand heute eine leichte Verschiebung von Mittelstand zu Konzern: Mehr Umsatz in Großunternehmen bzw. Konzernen und weniger in den KMU (vgl. statista oder Institut für Mittelstandsforschung IfM Bonn).

    Das, was auf den ersten Blick um jeden Preis zu vermeiden ist – der Steuerschaden – könnte auf den zweiten Blick aus rein politischem Blickwinkel, wenn nicht allzu weit in die Ferne der nächsten, dann wiederrum mehr belasteten Generationen gesehen wird, ein für diese kurze Sicht erstrebenswertes Ziel sein. Denn politisch dürften trotz des derzeitigen Modus‘ der Dauerkrise – und die nächste Krise droht mit dem Taiwan-China-Konflikt – erneute Staatshilfen in Höhe mehrerer hundert Milliarden Euro schwer durchsetzbar und zudem weiterhin EU-beihilferechtlich höchst problematisch sein.

    In jedem Fall steht das deutsche Umsatzsteuerorganschaftsrecht mit einiger Wahrscheinlichkeit vor grundlegenden Veränderungen in Richtung einer Anpassung an die EU-weiten Regelungen: weg vom umsatzsteuerpflichtigen Organträger und hin zur umsatzsteuerpflichtigen Mehrwertsteuergruppe.

    Material:

    • Artikel im Volltext (Bezahlschranke), ZInsO 2022, Ausgabe 48
    • Link zum Entscheidungskalender des EuGH mit der Dokumentenliste (Schlussanträge, Antrag und Vorabentscheidungsersuchen) zu Rs. EuGH C-141/20
    • Link zum Entscheidungskalender des EuGH mit der Dokumentenliste (Schlussanträge, Antrag und Vorabentscheidungsersuchen) zu Rs. EuGH C-269/20
    • Schlussanträge Medina zu Rs. EuGH C-269/20 mit Hervorhebung der hier zitierten Stellen

    Autor

    Prof. Dr. Alexander Jacobi
    Prof. Dr. Alexander Jacobi